Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Artikel, den ich im letzten Jahr im MDÜ veröffentlicht habe.
In den fast 20 Jahren, in denen ich das Übersetzungsbüro Peschel leite, sind unsere Projekte immer komplexer geworden: Mehr Sprachen, diverse Dateiformate und immer anspruchsvollere Fachthemen tragen dazu bei, dass der Anteil des Projektmanagements am Gesamtaufwand für Übersetzungsaufträge wächst. In unseren Anfangszeiten war das Projektmanagement eine begleitende Aufgabe der Übersetzer. Heute ist das Übersetzungsprojektmanagement bei uns eine eigenständige, vom Übersetzen getrennte Tätigkeit.
Diese Arbeitsteilung erlaubt es unseren Übersetzerinnen, sich auf das eigentliche Übersetzen zu konzentrieren, während die Projektmanager ihnen dafür „den Rücken frei halten“. Was zunächst einfach klingt, ist in Wirklichkeit eine Wissenschaft für sich; eine kurze Online-Suche zeigt, dass die Zahl der Bücher und Kurse zum Thema Projektmanagement schier unerschöpflich ist.
Im Projektmanagement wie wir es aus der Industrie oder auch aus der IT-Branche kennen, geht es um Projekte, die oft über Monate oder gar Jahre geführt werden. Im Übersetzungsbüro haben wir es mit Projekten unterschiedlichster Größe zu tun: von der einseitigen Pressemitteilung bis zum mehrere hundert Seiten umfassenden technischen Handbuch. Zudem laufen im Übersetzungsunternehmen immer eine Vielzahl unterschiedlichster Projekte parallel ab.
Doch beginnen wir am Anfang: Was ist eigentlich ein Projekt?
Im Unterschied zum laufenden Betrieb ist ein Projekt zeitlich begrenzt und einmalig. Übersetzungsprojekte unterliegen fast immer einem großen Zeit- und Kostendruck, und dabei sind sie sowohl sprachlich als auch technisch komplex. Im Unterschied zu vielen anderen Branchen werden die Kosten für das Projektmanagement allerdings nur selten getrennt ausgewiesen. Es überrascht deshalb kaum, dass unsere Kunden meist nicht wissen, dass das Projektmanagement ein nicht zu vernachlässigendes Kostenelement eines Übersetzungsauftrags ist.
Der Markt der Übersetzungsanbieter ist stark segmentiert: Fast 80% der Übersetzer arbeiten freiberuflich, und viele große Übersetzungsagenturen beschäftigen gar keine eigenen Übersetzer, sondern lassen von besagten Freiberuflern übersetzen. Im Gegenzug bieten Übersetzungsunternehmen eine ganze Bandbreite an Dienstleistungen, erfüllen unterschiedlichste technische Anforderungen, koordinieren Übersetzungen in viele verschiedene Sprachen, bieten Desktop-Publishing und vieles mehr. Eine kurzfristige Mobilisierung großer Kapazitäten gehört zum täglichen Geschäft.
Wie komplex viele Übersetzungsprojekte sind wird deutlich, wenn man sich die Anzahl der unterschiedlichen Projektbeteiligten vor Augen führt: Neben dem Projektmanager und dem Übersetzer kommen je nach Anforderung Korrektoren, Terminologen, Fachprüfer, technische Redakteure und Grafiker zum Einsatz. Und natürlich dürfen auch Auftraggeber und Zielgruppe, also die Leser der Übersetzung, nicht vergessen werden.
Dass das Berufsbild des Projektmanagers für Übersetzungen noch relativ neu ist, zeigt auch die Vielzahl der Bezeichnungen für ein und dieselbe Tätigkeit: Translation Project Manager, Übersetzungsmanager, Übersetzungskoordinator, Projektleiter für Übersetzungsmanagement, Projektmanager für Übersetzungen sind nur einige davon.
Nach einer Schätzung der Marktforschungsagentur Common Sense Advisory arbeiten heute ca. 82.000 Projektmanager bei Übersetzungsunternehmen, die meisten in Festanstellung.[1]
Wie sieht also die tägliche Arbeit unserer Superhelden im Übersetzungsbüro aus?
Beginnen wir mit der Anfrage:
Anfragen kommen meist auf elektronischem Weg, entweder mit oder ohne telefonische Ankündigung. Die meisten Kunden bitten zunächst um ein Angebot, welches sowohl die Kosten als auch den Zeitrahmen für die Erledigung der Übersetzung enthält. Beides hängt neben den Kapazitäten des Büros von der Länge, dem Fachgebiet, dem Schwierigkeitsgrad und der gewünschten Sprachkombination ab.
Um diese Faktoren einzuschätzen, sichtet die Projektmanagerin zunächst den Text. Um den Text in voller Länge zu lesen ist normalerweise keine Zeit. Mit geschultem Blick muss in möglichst kurzer Zeit eine Einschätzung der oben genannten Faktoren erfolgen. Eine Fehleinschätzung kann zu Verzögerungen im späteren Projektverlauf führen – etwa weil die Bearbeitung des Layouts deutlich aufwändiger ist als vermutet.
Nach der Sichtung und Einschätzung müssen nicht selten Kundenwünsche geklärt werden: Welche Variante des Englischen ist zu empfehlen, wer wird die Übersetzung lesen, welches Sprachregister ist gewünscht? Wie ist mit Eigennamen umzugehen und gibt es bereits unternehmensspezifische Vorgaben zu Terminologie oder Schreibweisen? Oft findet also bereits vor Abgabe des Angebots eine eingehende Beratung des Kunden statt. Diese ist gleichzeitig auch Verkaufsgespräch: Sind Zusatzleistungen wie ein Druckfahnenlektorat oder ein Lektorat des Ausgangstextes gewünscht?
Bei sehr knappen Terminvorstellungen reserviert das Projektmanagement schon vor Auftragserteilung die Zeit von Übersetzern und Korrektoren. Im Übrigen kann sich der Bearbeitungszeitraum auch auf den Preis auswirken: Während sehr kurzfristige Aufträge oft mit einem Eilzuschlag belegt sind, bieten wir auch Rabatte für eine längere Bearbeitungszeit.
Nachdem nun all diese Fragen geklärt sind und der Auftrag hoffentlich bestätigt wurde (wenn nicht, war die ganze oben beschriebene Arbeit umsonst, im Sinne von nicht bezahlt…), geht es an die eigentliche Projektabwicklung.
Projektabwicklung:
Einige der hier aufgelisteten Punkte wurden möglicherweise schon während der Angebotsphase erledigt. Es gehört zu den superheldenhaften Fähigkeiten unserer Projektmanagerinnen, den richtigen Schritt zum richtigen Zeitpunkt zu tun.
Nach Auftragserteilung wird das Übersetzungsprojekt zunächst im System angelegt. Wahrscheinlich sind die Kundendaten und die wichtigsten Projektdaten wie Name, Ansprechpartner, Textumfang, Preis, Sprachrichtung und Liefertermin schon für die Erstellung des Angebots eingegeben worden. Weitere wichtige Projektinformationen sind Fachgebiet, Auftragsart (Übersetzung, Lektorat…) und Informationen für die Projektbeteiligten (Referenzmaterial, Zielgruppe, Zweck). Für die Datenverwaltung gibt es einige professionelle Software-Lösungen auf dem Markt.
Als nächstes werden Übersetzer, Korrektor und eventuell DTP- oder Grafikexperte angefragt. Je nach Sprachkombination oder Zeitpunkt (etwa während der Urlaubszeit) kann es eine ganze Weile dauern, bis das Projektteam zusammengestellt ist. Selbstverständlich wissen erfahrene Projektmanager genau, wer für welches Projekt sprachlich und fachlich geeignet ist. Sie werden versuchen, möglichst immer die gleichen Übersetzer und Korrektoren für den gleichen Kunden zu verpflichten. Auch dies sind Informationen, die dokumentiert werden sollten.
Bevor die Übersetzer an die Arbeit gehen können, muss der Projektmanager in den meisten Fällen den Ausgangstext für die Bearbeitung vorbereiten. Dieser Schritt fordert Zeit, denn viele Kunden schicken am liebsten pdf-Dateien, die mit Übersetzungstools nur schwer bearbeitet werden können. Auch umständlich formatierte Word-Dateien, etwa mit vielen Tab-Stopps und Textfeldern und nicht editierbaren Grafiken, stellen einen zusätzlichen Arbeitsaufwand dar. Stellen Kunden Referenzmaterial zur Verfügung, muss auch dieses abgeglichen werden, eventuell vorhandene Translation Memories, Terminologielisten oder Style Guides müssen gesichtet und den Projektbeteiligten zur Verfügung gestellt werden.
Erst jetzt geht die eigentliche Übersetzungsarbeit los. Je nach Länge des Projekts überprüfen die Projektmanager nun regelmäßig den Fortschritt, um sicherzugehen, dass die Arbeit im Zeitplan ist. Außerdem sind sie für die Klärung von Rückfragen der Projektbeteiligten mit dem Kunden– etwa bei unklaren Formulierungen im Ausgangstext oder terminologischen Präferenzen – verantwortlich. Auch bei technischen Schwierigkeiten sind sie der erste Ansprechpartner.
Je nachdem, mit welchem System ein Übersetzungsbüro arbeitet, erfolgt die Lieferung der Übersetzung und Beauftragung der Korrektoren automatisiert oder manuell. Arbeiten die freiberuflichen Übersetzer mit einer anderen Software als das Übersetzungsunternehmen, muss die fertige Übersetzung in das firmeneigene System importiert werden. Trotz weitgehender Kompatibilität der verschiedenen Systeme birgt dieser Schritt immer das Risiko einer Verzögerung im Ablauf. Als nächstes exportieren die Projektmanager den Text aus der übersetzungsunterstützenden Software in das Ausgangsformat, also Word, PowerPoint oder auch idml oder html, und führen eine letzte Prüfung durch. Nun folgt entweder noch eine grafische Überarbeitung, oder der Text geht direkt zum Kunden.
Man könnte nun annehmen, dass das Projekt damit abgeschlossen ist, die Rechnung gestellt werden, und die Projektmanager sich ganz dem nächsten Projekt widmen können. Doch jedes gute Projektmanagement beinhaltet auch eine Nachbearbeitung. Im Fall von Übersetzungsprojekten bedeutet dies, dass die Kundenzufriedenheit erfragt und Feedback an Übersetzer und Korrektoren weitergegeben wird. Eventuelle Änderungen von Kundenseite werden ins System eingepflegt und Terminologiedatenbanken sowie Translation Memories auf den neuesten Stand gebracht. Bei größeren Projekten findet ein Debriefing mit dem gesamten Projektteam statt. Aufgabe der Projektmanager ist ebenso, alle Informationen und Erkenntnisse, die im Laufe des Projektes gewonnen wurden, zu dokumentieren. Dazu gehören Kundenpräferenzen sowie Feedback zu freien Mitarbeitern ebenso wie mögliche Beschwerden und wie auf diese eingegangen wurde. Erst wenn all dies erledigt ist, erfolgt die Freigabe zur Rechnungsstellung.
Nun kann man sich leicht vorstellen, dass ein Übersetzungsunternehmen, in dem nur ein Projekt nach dem anderen bearbeitet wird, nicht lange überleben würde. Tatsächlich jonglieren Projektmanager in Übersetzungsbüros täglich eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte für die verschiedensten Kunden und mit den unterschiedlichsten Projektbeteiligten.
Und damit nicht genug: In vielen Fällen übernehmen Projektmanager in Übersetzungsunternehmen auch noch Arbeiten außerhalb ihres eigentlichen Bereichs, nämlich diverse Aufgaben im laufenden Betrieb. Dazu gehören die Verwaltung und Pflege von Kundendaten, Lieferantenmanagement (es gibt Übersetzungsunternehmen, in denen die Verwaltung der freien Mitarbeiter ein vom Projekmanagement getrennter Aufgabenbereich ist) und die Nachverfolgung von Angeboten. Aufgaben aus dem Marketing/Sales wie die Kontaktierung von Altkunden oder Telefonmarketing können in Übersetzungsbüros ohne Marketingabteilung auch im Projektmanagement angesiedelt sein.
Betrachtet man diese Bandbreite an Aufgaben und Verantwortlichkeiten, wird schnell klar, dass Projektmanager für Übersetzungen Superhelden sind: Gute Projektmanager zeichnen sich durch absolute Dienstleistungsorientierung aus. Sie sind sehr kommunikativ und zugewandt, immer freundlich – auch bei Termindruck. Sie setzen schnell Prioritäten und arbeiten strukturiert. Das Projektmanagement ist die Schnittstelle zwischen Kunden und Projektbeteiligten. Deshalb erfordert es großes Fingerspitzengefühl und Teamgeist, um einerseits die Wünsche der Kunden zu erfüllen und andererseits die Teammitglieder nicht unnötig unter Druck zu setzen. Dabei ist auch unternehmerisches Denken gefragt: Projektmanager sollten immer ein Auge auf die Marge und einen Blick für das große Ganze haben. Im Projektmanagement liegt vermutlich die wichtigste Stellschraube für Effizienzsteigerungen im Übersetzungsunternehmen.
Neben all den erwähnten Qualitäten brauchen Projektmanager für Übersetzungen auch sprachliche/übersetzerische Fähigkeiten, um Kunden kompetent zu beraten. Außerdem müssen sie – wie oben beschrieben – in der Lage sein, die Schwierigkeiten und Ansprüche eines Textes durch kurzes Durchsehen einzuschätzen. Auch technisches Verständnis ist unerlässlich: Schließlich arbeiten Projektmanager täglich mit unterschiedlichen Softwareprogrammen und Dateiformaten und müssen sowohl Projektbeteiligte als auch Kunden technisch versiert unterstützen. Dazu gehören auch die Behebung kleinerer Probleme und die Kommunikation mit dem Software-Support.
Nach meiner Erfahrung gibt es nur wenige ausgebildete Übersetzer, deren Berufung gleichermaßen beim Projektmanagement und beim Übersetzen liegt. Natürlich gibt es Übersetzungsunternehmen, in denen Übersetzer gleichzeitig auch als Projektmanager arbeiten. Auch gibt es Übersetzer, denen die Arbeit am Bildschirm zu wenig kommunikativ ist und die sich im täglichen Kontakt mit Kunden, Kollegen und freien Mitarbeitern viel wohler fühlen. Auf jeden Fall ist es wünschenswert, dass bereits im Übersetzerstudium auf eine mögliche Tätigkeit als Projektmanager im Übersetzungsbereich eingegangen und dafür vorbereitet wird. In den Berufsverbänden ist man inzwischen auf das Thema aufmerksam geworden, jedoch besteht noch viel Nachholbedarf.
Weitere Informationen
Masterarbeit Milena Nowak: Translation Project Manager: Berufsbild und Anforderungsprofil, Wien 2013 (http://othes.univie.ac.at/29613)
https://csa-research.com/
Keiran J. Dunne (Hrsg). 2011. Translation and localization project management. Amsterdam: Benjamins
[1] https://csa-research.com/
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